Edition eines undatierten Briefes von Philipp Weinheimer (1921-2006), der Ende des 2. Weltkrieges an der Front in St. Petersburg stationiert war. Im Brief blickte er auf den 24. Juli 1944 zurück, als ein russischer Angriff ihn schwer am Arm verwundete. Zuvor war er als Soldat bei der unsäglichen Leningradblockade beteiligt, aber bereits Mitte Januar mit einer schweren Armverletzung ausgeflogen worden.
“24. Juli 1944 …….. Der Tag beginnt, ohne daß er sich von den vorherigen wesentlich unterschieden hätte. Nur die unheimliche Waffenruhe des Russen am Vortrage drückt auf die Stimmung. Was wird der Montag bringen? Wir hatten am Sonntag mit einem russischen Angriff gerechnet ….
Ich hatte von 2-4 Uhr Posten im M.G.[-]Stand. Wieder fast vollkommene Ruhe: Jeder, der längere Zeit im vordersten Graben stand, weiß[,] daß dieses einen baldigen Sturm bedeutet. Um 4 Uhr werde ich abgelöst. Mein Gruppenführer hat nun Grabendienst, ich muß die Bunkerwache übernehmen. Ich eße etwas, brenne meine Pfeife an und schreibe 2 Briefe. Draußen war die Sonne schon blutig rot aufgegangen. Der Uffz. kommt kurz vor 5 Uhr zurück; ich legte mich sofort auf meine Pritsche, ich war müde u. hatte die ganze Nacht noch kein Auge zu gehabt. Doch kaum liege ich da, kommt unser Zugführer, Herr Leutnant Vogt, und befiehlt höchste Alarmbereitschaft. Es soll sofort noch ein Doppelposten in die H. K. L. [Hauptkampflinie] .. Der Leutnant geht, ich wecke die anderen. Noch während ich dabei bin, höre ich die ersten Artillerieabschüsse, die Granaten orgeln heran. Die Einschläge liegen im Bereich unserer H. K. L. und unserem Bunker. „Jetzt wird’s[!]“ [,] denke ich für mich. „Es geht los“[,] sage ich nur. Unser Gruppenführer, Uffz. Minzleff [Minzlaff?], will sofort alles rausjagen auf die Gefechtsstände, die ungefähr 30-40 Meter weiter vorne waren. Laufgräben gibt es hier nicht, nur Knüppelstege, es ist ja überall Sumpf und Wasser. O herrliches Lappland. Der Unteroffizier will als erstes aus dem Bunker. „Bist Du verrückt“[,] rufe ich ihm zu . Krachend krepiert eine Granate in unmittelbarer Nähe des Bunkers und bringt eine starke Tanne zum Umstürzen. Aber der Uffz. hat keine Ruhe, er kriecht aus dem Bunker, um Koppel und Gewehr zu holen. Wieder schlagen einige Granaten ein. Unser Uffz. kommt zurück, er hat einen Granatsplitter in die Schulter abbekommen. „Das hast Du davon“[,] knurre ich unzufrieden. Zum Glück ist es nicht so schlimm. Einige Zeit später merke ich, daß der Russe sein Artilleriefeuer verlegt. Infanteriefeuer flackert auf. Nun wird es Zeit[,] denke ich bei mir. Vorsichtig krieche ich aus dem Bunker, schiele um die Ecke zur H. K. L. Ein wüster Anblick. Alles undeutlich in Pulverqualm gehüllt, große Granattrichter, umgestürzte zerfetzte Bäume[,] usw. Mit wenigen Sprüngen habe ich meinen M. G.[-]Stand erreicht, stelle mit Freuden fest, daß den 2 Männern u. dem Maschinengewehr nicht passiert ist. Dankbar aufatmend sehen mich die 2 Kameraden an, der eine ist 18, der andere 19 Jahre alt [Philipp Weinheimer war 23]. Mit einem Blick sehe ich, daß unsere starken Minen und Stacheldrahtsparren zum größten Teil zerstört und der Russe [2 Worte unleserlich] ist. Unglücklicherweise scheint uns die Sonne gerade ins Gesicht, sie blendet uns. Wir schießen ca. 100 Schuß mit M. G., werfen einige Handgranaten. 3 Russen bleiben tot liegen, die anderen türmen zurück. Wieder beginnt das russ. Trommelfeuer u. zwar mit solcher Heftigkeit[,] wie ich es selbst noch nicht erlebte. Ob es da wohl noch ein Entrinnen gibt? Wir sehen uns nur an, ich stopfe meine Pfeife. Ich bin eigentlich sonderbar ruhig. Der Russe schießt mit allen möglichen Waffen. Artillerie, Pak, Flak u. seiner berüchtigten Stalinorgel ein unheimliches Trommeln, die grausig[e]
Oper des Krieges. Zwischen das[!] Hämmern der Maschinengewehre mischt sich das Dröhnen der Jagd-, Schlacht- u. Bombenflugzeuge, das Pfeifen u. [die] Detonation der Bomben, das Bellen der Bordwaffen. Aber auch unsere eigenen schweren Waffen sprechen ihre Sprache, wir sehen die unheimliche Wirkung der Nebelwerfer, die Einschläge unsere[r] schweren Mörser. Dazu kommen die siegreichen Luftkämpfe unserer Jagd- und Schlachtflugzeuge. So ging es von 5 – 11 Uhr mit nur ganz kleinen Feuerpausen. Unser Uffz. war in der ersten Stunde noch bei uns im Kampfstand, bekam aber immer mehr Schmerzen und ist auf mein Zureden zurück in den Bunker. Ich übernahm den Befehl über die Gruppe, das M. G. nahm ein junger Gefreiter u. K. O. B. [Kriegsoffizierbewerber], der uns am geeignetsten schien. Unsere Gruppe hatte 2 Kampfstände, in jedem 2 Mann. Ich kroch hinter der zusammengeschossenen Pallisade[!] hin, um mich über den Zustand von Männern und Waffen zu orientieren. Es war alles noch soweit in Ordnung. Die rechts eingesetzt s. M. G. [sub machine gun; 9mm Colt] hatte zwei Schwerverwundete. Ich kroch wieder zum M. G.[-]Stand zurück. So gegen ½ 12 Uhr kam ich auch wieder von den Gewehrständen zurück, der Russe trommelte wieder stärker. Ich legte mich hinter die Pallisade, flach auf den Knüppelsteeg[!] gepresst. Ein Pfeifen, Zisch- u. Krachen; ich fühlte einen schweren Schlag gegen die rechte Schulter, ein heftiger Schmerz. Mir war es, als ob der Arm ab wäre. Ich sprang auf, und lief trotz des feindlichen Feuers zurück zum Bunker, wo der Uffz. war. Der war maßlos erschreckt[,] als er mich sag. Da er allein auch nicht viel machen konnte, rief er nach dem Sanitäter, der im Nachbarbunker war. Der Stabsgefreite kam sofort und verband mich so gut es eben ging. Ich war am jammern[!], die Schulter schmerzte unheimlich . Der Sanitäter und der Uffz. beruhigten mich. Draußen ließ die Schießerei nach. Mit Hilfe des Zugmelders, der inzwischen herbeigerufen wurde, bin ich zum Komp. Gefechtsstand zurückgehumpelt. Dort eine kleine Rast, dann weiter zum Batl. Gefechtsstand, wo auch der Arzt seinen Bunker hatte. Als dieser meine Wunde sah, krummelte[!] er: „Ist halb so schlimm[.]“[.] Dabei nahm er seine Pfeife nicht aus dem Mund. (er rauchte ununterbrochen). Ein San. Uffz. verband mich wieder frisch u. gab mir eine Tetanusspritze mit Morphium. Letzteres linderte die Schmerzen. Weiter ging die Reise mit einem Pferdewagen über Knüppeldamm. Diese Fahrt wird mir ewig gedenken. Mit gebrochenem Schlüsselbein und diese andauernden Erschütterungen. Irgendwo wurden wir abgeladen und mit einem San. Auto rüber zum Hauptvorstandsplatz[?] gebracht. Es war dunkel, ein Arzt frage nach Verwundung usw., mich auch. Darauf wurde ich sofort zum O. P. getragen, rauf auf dem Operationstisch. Ein Sanitäter löst den Verband, der Arzt befühlt die Wunde. Ich schreie auf, wir ein gequältes Tier. „Betäuben“[,] sagt einer. Schon habe ich auch schon eine Maske vor dem Gesicht, ein starker Äthergeruch umgibt mich. „Eins, zwei, drei … sechszehn … sieb … zehn….“[.] Weiter komme ich nicht. ….. Als ich wieder aufwache, liege ich auf einer Trage, die auf dem Boden steht. Ich sehe einen Sanitäter umherschleichen. Ich frage ihn, was mit mir los war. Er gibt keine Antwort. Ein starker Verband liegt um Schulter u. Oberarm. Es ist halbdunkel in dem Raum.
Eine Weile später wird alles auf Autos zum Bahnhof geschafft und in Güterwagen verladen. Mit 10 Mann sind wir in einem Wagen. Wir liegen auf Strohsäcken, ich muß sagen, es war nicht schlecht. Die Fahrt geht nun von Jöbi [Jöhvi] über Wesenberg [Rakvere], Reval [Tallinn], nach Habsal [Haapsalu]. In Wesenberg wurden auch schon einige Schwerverwundete ausgeladen. In Habsal war ich 3 Tage. Morgens in aller Frühe wurden wir wieder in den Güterzug verladen. Die Fahrt ging zurück nach Reval bis in den Hafen. Dort hatte schon ein Truppentransporter, etwa 5600 [oder 5500?] B. R. T. [Bruttoregistertonne] groß, angelegt. Auf diesen wurden wir nun verladen. Wir waren mit etwa 1500 Verwundeten auf dem Kahn. Mittags um 4 Uhr begann nun die Seereise. Wenn das nur gut geht, dachten wir. Abends schon schlichen Ärzte u. San. Personal mit Schwimmwesten herum wir lagen mit unseren Gipsverbänden in den Kojen. Ich ließ mir eine Morphiumspritze geben, schlief die ganze Nacht hindurch fest und gut. Nach dem Morgenkaffee humpelte ich nach oben auf das Freideck. Wir waren inzwischen auf hoher See. Der Seegang war aber ziemlich ruhig. Die Sonne schien. Wir fuhren mit unserm Begleit- u. Sicherungsschiffen ein gemütliches Tempo. Auf Freideck traf ich den [durch verwischte Tinte schwer lesbar; es folgen zwei Kürzel] Unterscharführer, der von Kempten war. Nach dem Mittagessen wurde der Seegang stärker. Der Kahn fing an zu schaukeln. Nun waren schon die ersten Seekranken[!]. Ich blieb in meiner Koje liegen, das ist in diesem Falle das Beste. Unseren Sanitäter habe ich gedauert. Der arme Kerl saß oft auf der Treppe vom 2. zum 3. Deck und hielt sich einen Schieber vor der Mund. Es war dies meine erste Hochseereise. Ich könnte ein ganzes Buch davon schreiben ….
Ohne Zwischenfall kamen wir nach Gotenhafen, wo wir Verbandsstoff an Bord nahmen. Weiter ging die Fahrt nach Swinemünde. Während der letzten Stunden auf dem Schiff, gab es Schiffszwieback und Punsch aus Rotwein. Bei herrlichem Wetter kamen wir in Swinemünde an. Am Kai standen schon wartend zwei lange Lazarettzüge. [Das Schiff, das die Verletzten nach Swinemünde brachte, wurde nur wenige Stunden nach dem Verlassen des Lazarettzuges durch alliierte, vermutliche britische Bombenflugzeuge auf Stadt und Hafen zerstört.] Wir wurden sofort umgeladen, und im Laz. Zug ging die Fahrt über Pasewalk, Neubrandenburg, Hannover, Kassel, Gotha, Erfurt, usw. In Bad Kösen wurde ich nachts um 2 Uhr ausgeladen. Nun bin ich hier in der Abteilung Hämmerling. Am 6. August kam ich hier her. Am 13. August hat mich Vater und Gustav [sein Bruder] hier besucht. Am 26. August kam Maria [seine Schwester] u. ist am 28.8. wieder abgefahren.“
Route des Lazarettzuges
Zunächst von der Front bei St. Petersburg nach Haapsalu in Estland. Dort wurden die Verletzten in ein Schiff umladen:
Von Haapsalu (Estland) wurden die Verletzten bis nach Świnoujście (Polen) per Schiff transportiert.
Schließlich von Świnoujście – kurz nach dem Verlassen des Schiffes wurde es durch alliierte Bomber getroffen und sank – in das Lazarett in Bad Kösen, wo vermutlich der Brief entstand:
Die Datierung des Briefes ist mit Schwierigkeiten behaftet: Zwar schreibt er gegen Ende es Briefes: „Nun bin ich hier in der Abteilung Hämmerling. Am 6. August kam ich hier her.“, nutzt aber für seine Erzählung mehrmals den historischen Präsens. Eindeutiger beweist die These, dass er tatsächlich im Bad Kösener Lazarett diese Erinnerung verfasste, da er seine folgenden Aufenthalte in kurzzeitige Aufenthalte in Kiedrich (Rheingau) und Ingelheim (Rheinhessen) im September 1944 und anschließendem Lazarettaufenthalt in Plauen im Vogtland bis Anfang März. (Im November scheint er wenige Tage in Ockenheim verlebt zu haben.) Seine letzte Karte sendete er von Plauen am 3. März 1945 “heim”. Danach enden die Eintragungen. In mündlichen Berichten erzählte er, dass er gegen Ende des Krieges mit einem Soldaten aus Kempten aus dem Lazarett in Plauen floh – vermutlich jenem, den er auf dem Lazarettschiff traf. Tatsächlich war die Verletzung vom Juli 1944 seine dritte und letzte; er kehrte danach nicht wieder an die Kriegsfront zurück. Als die Kunde im Lazarett eintraf, dass sich von Osten die russische, von Westen die amerikanische Armee näherte, flohen Weinheimer und der Kempter aus dem Lazarett nach Westen, bewusst in die Arme der Amerikaner, eine sanftere Bestrafung erhoffend. Der Kempter hatte noch eine goldene, offenbar wertvolle Armbanduhr in seinem Besitz, die er einem amerikanischen Soldaten gab. Beide kamen in so amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurden nach Nordosten in die schon befreite Zone gebracht, von dort ins Lazarett Ingelheim, wenige Orte von ihren Heimatdörfer entfernt. Dort erlebte Philipp Weinheimer das Kriegsende und durfte in seinen Heimatort zurück.
Philipp Weinheimer war mein Großvater. Diesen Brief habe ich bei Aufräumarbeiten in seinem Haus gefunden, das ich nun bewohne und derzeit nach und nach renoviere. Nächstes Jahr werde ich seinen „Nachlass“ im Haus kategorisieren und verzeichnen, ebenso als Open Access zugänglich machen. Darunter sind Ehrungen des genannten MGVs, in dem er 65 Jahre sang, aber auch viele Arbeitsgeräte, die er für seine Berufe (Fleischbeschauer, Winzer, zeitweise Gemeinderechner) benutzt hat, wie auch Überliefertes seiner Soldatenzeit (Geldscheine, Marken, Urkunden, Fotografien, Schriftstücke, …).
Ich bin mir bewusst, dass es problematisch ist, wissenschaftlich kritisch das Leben eines Vorfahren aufzuarbeiten, besonders während Nazi-Deutschland. Er erzählte jedoch immer frei und ehrlich auch von den 1940er Jahren. Und das durchaus auch selbstkritisch. Dieses “Wissen” hilft auch mir, vor möglicherweise erschreckenden Erkenntnissen über sein Leben die Distanz bewahren zu können.
Abbildungen:
- Oberes Foto: Anonym: [Philipp Weinheimer in Verdun, 1941] CC-BY SA 3.0
- Drei Briefseiten: Weinheimer, Philipp: [Feldpost vom 24.07.1944]
- Unteres Foto: Anonym: [Familie Weinheimer, verm. 1939] CC-BY SA 3.0
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